04/95  Bastard
Einband aus Isolierfilz, 74 Seiten

Layout: Susanne Schmitz, Leander Scholz
+++

Auszug aus dem Editorial

Der erste Bastard war ein illegitimer Sohn des Teufels. Die Mutter wird sie gut wie nie genannt. Er hieß Wilhelm und war der Eroberer Englands (1066). Teufel war der Beiname Herzog Roberts I. Die Mutter wird so gut wie nie genannt. "Ego Wilhelmus, cognomine bastardus", unterschrieb Wilhelm Briefe und hinterlies so die Spur des Wortes. Er trug die uneheliche Herkunft als identitätsstiftendes Merkmal, bis die Geschichte seiner Taten seine Herkunft überwand und Bastard durch den Beinamen Eroberer ersetzte.

Die etymologische Herkunft des Wortes liegt im Verborgenen: normannisch? französisch? deutsch? oder ein Mischling aus alledem? Germanisch bast steckt in Bastard, Bast als wertloses, (zu) weiches Material (mittelhochdeutsch: sam ein bast,> Bast(h)art); Bast als Faser für unedle Stoffe (im Parzival: samit bastart). Auch mit französisch bas (niedrig) ist Bastard verwandt: fils de bas als alte Bezeichnung für uneheliche Kinder. Zu gotisch banst (Scheune) besteht ebenfalls eine Beziehung: Bastard als in der Scheune gezeugte.

Ob im Bereich der Gegenstände, der Pflanzen, Tiere oder Menschen, immer wenn es um den Begriff Bastard geht, taucht die Frage der Identität verknüpft mit dem Problem der Reinheit auf. Die Lust, das mit dem Begriff Gemeinte zu bezeichnen, hat eine Vielzahl von ähnlichen Ausdrücken hervorgebracht: Bankbein, Bankert, Bänkling, Hornung, Hübschkind, Hurensohn, Hybride, Kebskind, Kreuzling, Liebkind, Mischling, natürliches Kind, Wechselbalg, Zwitter.

Wie kann dieses Interesse an der Verknüpfung von Identität und Reinheit im Einzelnen verstanden werden? Verschiedene Diskurse kreuzen sich hier. Der Bastard wirft u.a. Rechtsfragen, Fragen der sozialen Stellung und der Religion auf: Darf er das väterliche Erbe antreten? Zu welchem Stand gehört er, zu welcher Schicht, welcher Religion? Kann und darf er Nachkommen haben? Ist ein Kind einer deutschen Jüdin und eines deutschen Christen jüdisch oder deutsch? Ein in Deutschland aufgewachsener Mensch mit türkischen Eltern - ein Bastard zweier Kulturen - wird gezwungen sein, seine Identität jenseits der Reinheitsvorstellungen von reinen Türken und reinen Deutschen zu suchen. Den reinen Bastard gibt es nicht. Vielleicht einen idealtypischen Bastard, Dionysos vielleicht, oder sein Stiefbruder Jesus: z.B. ein Stände-Mischling zwischen Gott und Mensch; ein natürlicher Sohn weil außerhalb der Ehe gezeugt; ein Liebkind weil nicht aus Konvention sondern aus Liebe empfangen; ein Zwitter, Jude und Christ und weder noch Jude noch schon Christ. Christ ist eine Art, der Bastard ist artlos, eine Unart mit dem Potential allerdings zur Mode, d.h. von aller Virulenz gereinigt zu werden. Der Bastard ist anziehend und abstoßend zugleich, hat vieles von dem, was man kennt und eben noch mehr, anderes, Fremdes. Damit stellt er die herkömmliche Ordnung in Frage; und damit, daß er überhaupt möglich ist, daß sich diese zwei sonst so sorgsam voneinander getrennten Bereiche überhaupt fruchtbar haben verbinden können: das ist ein Skandal. Das Produkt dieser skandalösen Grenzüberschreitung ist beiden Bereichen fremd, ist eigen, ist vielleicht androgyn, android, hermaphroditisch, transsexuell, Zentaur oder Sphinx. Und was, wenn gerade das, was nicht sein soll, das bessere ist, das, was ich nie sein kann, denn mir fehlt eine Adlige, eine Kurdin, eine Göttin, eine Farbige zur Mutter.

Bastard sein wollen? Der französische Schriftsteller Lucien Bastardhat sich umbenannt in Luc Estang. Violette Leduc fragt in ihrem autobiographischen Roman Die Bastardin: "Warum fliehen die Bastarde einander? Warum verabscheuen sie einander? Warum bilden sie nicht eine Bruderschaft? Sie sollten einander verzeihen, da sie alle das gemeinsam haben, was es an Kostbarstem gibt, an Zerbrechlichstem, an Stärkstem, an Finsterem in ihnen: eine wie ein alter Apfelbaum gewundene Kindheit. Warum gibt es keine Heiratsagenturen, damit sie untereinander heiraten?" In "Deutsch-Südwestafrika" haben sich die Nachkommen von "Hottentotten"-frauen und Burenmännern stolz Bastards genannt und sich als eigene Volksgruppe begriffen: Sie fühlten sich mit ihrem weißen Anteil den rein Schwarzen überlegen. Ein deutscher Forscher bewies an ihnen zu Beginn des Jahrhunderts die Gültigkeit der Mendelschen Vererbungsgesetze für den Menschen. Im Zuge seiner Untersuchungen lobt er die Kinder dieser Bastardierung als der Elterngeneration überlegen.

Doch als Wunschkind verkommt der Bastard zum Hund, und wir zu uns alleinerziehenden Kindern, die auf der Suche nach den edelsten Eltern alle kulturellen Grenzen überfliegen, kreuz und quer. Der Bastard aber ist eigenartiger, ist seine eigene Art.

Andreas Drewer  

Inhaltsverzeichnis

Agentur Bilwet
La société des débâcles
Die Kritik der bastardischen Vernunft
Essay

Julian Schutting
Bastard?
Lyrik

Hélène Cixous
Eine Art zu
Aus dem Seminar „Poétique de la Différence Sexuelle“ vom 26.2.1994

Rembert Hüser
Schreibfehler
Essay

Leander Scholz
Rarer März
Lyrik

Andreas Drewer /  
o.T.
Gestaltete Seite

Georges Alexandre*
Yellow Dog Blues
Lyrik

Herta Müller
In der Falle
Aus der Bonner Poetikvorlesung Sommer 1995

Claude Alexandre
Transvestiten
Fotoserie

Manfred Weinberg
Abseits von den anderen
Zur besonderen Erkenntnisfähigkeit des Außenseiters bei Hubert Fichte
Essay

Peter Krapp
Merlins Modem
Essay

Georges-Arthur Goldschmidt
Abendspiel
Prosa

Georges-Arthur Goldschmidt
Batard battu
Interview (David Link)